Ian

,

22

In seiner Geschichte erzählt Ian von einem Sommer, der harmlos begann und in eine Diagnose mündete, die sein komplettes Leben veränderte. Was als unerklärliches Gefühl im Hals startete, wurde zu einem langen Weg voller Angst, Kampfgeist, Rückschläge und unglaublicher Stärke.

»Es begann alles im August 2023. Ich war mit meinen Jungs im Kroatienurlaub. Unser erster gemeinsamer Urlaub. Wir hatten eine Gruppe Mädels kennengelernt und wollten zum Abschluss der wunderschönen und sehr ereignisreichen Tage gemeinsam im Restaurant etwas essen gehen und den letzten Abend entspannt ausklingen lassen, bevor es wieder über 1000 Kilometer in die Heimat gehen sollte.

Soweit, so gut. Unser Essen kam, ich war hungrig und nahm natürlich sofort ein paar Bissen. Irgendetwas war komisch, irgendwas fühlte sich nicht so an, wie es sollte. Egal, dachte ich mir, und aß weiter. Aber es wurde nicht besser – ganz im Gegenteil. Ich musste aufspringen und schnellstmöglich auf die Toilette sprinten. Ich hatte so eine Übelkeit und einfach das Gefühl, als würden sich die Spaghetti im Mund verdoppeln und könnten nicht in den Magen gelangen. Ich versuchte, mich zu übergeben, es kam aber nichts, und so machte ich mich wieder auf den Weg an den Tisch. Ich dachte mir nichts dabei, vielleicht war mein Magen etwas überreizt durch die etlichen Liter Dosenbier und Gin Tonic, die er die letzten Tage gesehen hatte.

Es ging wieder nach Deutschland und dieses Gefühl wurde Alltag. Es war, als würden mir die Sachen im Hals stecken bleiben. Ich beschloss, zum Arzt zu gehen. Dieser versuchte, mir ein gutes Gefühl zu geben. ›Das wird nichts Ernstes sein, Sie sind jung.‹ Er ging davon aus, dass es eine Gastritis¹ sei und sich das bald von selbst wieder geben würde. Ich hatte natürlich nicht im Ansatz das Wissen, das ich heute habe. Also vertraute ich ihm, besorgte mir die Packung Magensäurehemmer aus der Apotheke und hoffte auf baldige Besserung.

Aber nichts da. Es wurde nicht nur nicht besser, es verschlimmerte sich nahezu täglich. Die Pantoprazol waren ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich hatte zwar das Gefühl, dass diese die Symptomatik etwas linderten, und trotzdem blieb immer wieder etwas in meinem Hals stecken. Also wieder zum Hausarzt um wieder vertröstet zu werden. Er schob es auf meinen Lebensstil, wie ich später meiner Krankenakte entnehmen durfte. Wieder nur ein Folgerezept, kein Abklären einer mechanischen Ursache. Kein Ultraschall, keine Gastroskopie.

Eine unfassbare körperliche Schwäche übermannte mich. Arbeiten, schlafen, Blut spucken, arbeiten, schlafen. Nachtschweiß kam dazu, so intensiv, dass ich mein Bett teilweise mehrfach in einer Nacht neu beziehen musste.

Ich entschied mich, doch noch einen weiteren Termin zu vereinbaren, aber diesmal bei seinem Praxiskollegen. Das erste Mal wurde mir Blut abgenommen. Er hatte einen konkreten Verdacht – und dieser sollte sich bestätigen. Der Wert CA 72-4 (ein Tumormarker) war unmenschlich hoch. Normbereich: alles unter acht. Meiner war bei 334.

Aber so hatten wir unseren ersten Anhaltspunkt. Endlich. Meine Mama war in der Zwischenzeit auch mit in das Thema eingestiegen und drängte nun auf diverse Untersuchungen. Sonographie² direkt in der Hausarztpraxis, kein Ergebnis, alles unauffällig. Also endlich, fünf Monate später, am 24. Januar 2024, sollte ich meinen Termin zur Gastroskopie bekommen.

Da waren wir also – ein halbes Jahr voller Leid, Schluckbeschwerden, Nachtschweiß und Gewichtsverlust. Wie ich heute weiß, eindeutige Symptome. Aber damals wusste ich das natürlich nicht einzuordnen.

Der 25. Januar 2024, der Tag, der mein Leben für immer verändern sollte. Ich war nicht wirklich aufgeregt, einfach nur erleichtert, hoffentlich endlich eine Antwort zu bekommen. Ich werde es nie vergessen: Die Untersuchung war vorbei, und ich war noch sichtlich benommen von der kleinen Schlummerspritze. Meine Mama kam herein und ein paar Minuten später auch die Ärztin. Sie bestand darauf, dass meine Mama sich setzen sollte. Sie verneinte, da sie doch die ganze Zeit während der Untersuchung schon gesessen hatte. Die Ärztin bestand noch einmal darauf, sie setzte sich.

Sichtlich betroffen fing sie an und zögerte nicht lange, um uns mitzuteilen, dass ich einen bösartigen Tumor am Übergang der Speiseröhre in den Magen hätte. ›Also wollen Sie mir jetzt sagen, dass ich Krebs habe?‹ – ›Wir warten noch auf das Ergebnis der Biopsie, aber das, was man sehen kann, ist sehr eindeutig. Ich habe das in Ihrem Alter noch nie gesehen.‹ Ich habe es nicht wirklich realisiert und musste lachen. ›Ich kann doch gar keinen Krebs haben, ich muss doch morgen arbeiten.‹ Ich hatte nach so langer Zeit endlich einen Job gefunden, der mir Spaß machte, und mein erster Gedanke war tatsächlich die Angst, diesen wieder zu verlieren.

Und da stand ich nun mit meiner Mama, komplett überfordert und ratlos. Speiseröhrenkrebs mit zwanzig? Ernsthaft? Wir lachten zwar noch, aber innerlich merkte man schon jetzt: Da wird noch einiges auf uns zukommen.

Wir machten kurzen Prozess, drei Tage später fand ich mich in der Charité wieder. Staging* war angesagt. Ich hatte mich entschieden, meine komplette Behandlung an dem wohl renommiertesten Krankenhaus Europas durchführen zu lassen. Meine Entscheidung hatte mehrere Gründe: erstens den, wie schon erwähnt, sehr guten Ruf der Klinik und der Chirurgen, die mich, wenn alles gut geht, operieren sollten. Dann wollte ich mich natürlich an einem zertifizierten Zentrum behandeln lassen, was in meiner Heimatstadt einfach nicht möglich gewesen wäre. Außerdem liebe ich Berlin und habe gleichzeitig entschieden, meinen Lebensmittelpunkt komplett nach Berlin zu verlagern. Denn: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Sicherlich keine so leicht nachzuvollziehende Entscheidung – ist man doch gerade in der Akuttherapie auf die Unterstützung von Familie und Freund:innen angewiesen. Aber meine Entscheidung war getroffen. Einer meiner besten Freunde musste aus beruflichen Gründen genau in dieser Zeit nach Berlin ziehen, und als wir von seiner Wohnungsbesichtigung zurückfuhren, schaute ich ihn an und sagte: ›Ich komm mit, wir ziehen das zusammen durch.‹

Da war ich also, fast komplett alleine in einer fremden, beeindruckenden und in den Bann ziehenden Stadt. Das Staging war positiv verlaufen. Es wurde mit großer Gründlichkeit nach Metastasen gesucht, denn mittlerweile stand auch die genaue Diagnose: ›Adenokarzinom* des gastroösophagealen Übergangs mit Siegelringzell- und Kardiaanteil sowie Kontakt zu Lebersegmenten eins und zwei.‹ Stadium T4. Speiseröhrenkrebs mit zwanzig, okay. Aber dann auch noch in so einer komplexen, hoch aggressiven Form? Stunden des Wartens auf dem Gang, diverse Untersuchungen, Gastroskopien, Sonographien, Endosonographien, CT, Laparoskopie, Portkatheteranlage. Ich wurde so dermaßen auf links gedreht, aber es wurde – und ich bin heute noch unfassbar dankbar dafür – keine einzige Metastase* gefunden. Ein kleines Wunder.

Blieb nur noch ein Problem, aber das war nun mal auch nicht ganz ohne: Wie kriegen wir diesen überdimensionalen Tumor operabel, und wie kriegen wir es hin, dass du wieder zu Kräften kommst und Nahrung zu dir nehmen kannst? Vier Zyklen neoadjuvante Hochdosis-Chemotherapie im FLOT-Schema. Ich war nicht wirklich begeistert: die Nebenwirkungen, meine Haare. Ich hatte Angst – Angst vor all den Sachen, die man im Internet so liest.

Rückblickend betrachtet, waren es mit die schönsten drei Monate meines Lebens. Wie kommt der jetzt darauf, denkst du dir? Ich lebte in der Stadt meiner Träume, hatte die bedingungslose Unterstützung meiner Familie, einen guten Freund an meiner Seite und so eine tiefe Dankbarkeit dafür, am Leben zu sein, dass das die Nebenwirkungen erträglich machte. Natürlich fielen meine Haare aus, ich hatte enorm mit Durchfall, Übelkeit, Fatigue*, Neuropathie* und vielen anderen Dingen zu kämpfen. Aber ich konnte vor allem wieder essen. Die Schluckbeschwerden gingen schon in Zyklus eins fast gänzlich zurück. Ich konnte endlich wieder Nahrung zu mir nehmen – und das machte ich auch, ich musste ja schließlich zu Kräften kommen für diesen riesigen Eingriff, der mir bevorstand.

Ich habe während dieser Zeit rational sehr unverantwortliche Sachen gemacht, aber ich würde immer wieder so handeln. Kurz nachdem der erste Zyklus überstanden war, flog ich für drei Tage nach Sizilien. Sonne tanken, entspannen, regenerieren. Ich war im Olympiastadion, auf Konzerten, in Nachtclubs oder habe einfach nur Zeit mit meinem Kollegen verbracht. Natürlich gab es auch genauso viele Tage, an denen ich kotzend im Bett lag, aber aus den guten habe ich versucht, das Maximum herauszuholen.

Tag X rückte näher – die Operation, die mir mein neues Leben schenken sollte. Sie stand zwar auf der Kippe, da die Chemo nicht in dem Maße verkleinert hatte wie angenommen, aber die Ärzte entschieden sich trotzdem, es zu versuchen. So wurde der 17. April 2024 für diesen Eingriff angesetzt. Mein neuer Geburtstag, genau einen Monat nach meinem tatsächlichen. Der Termin stand fest, und ich buchte mir sofort einen Flug nach Barcelona, um quasi direkt vom Strand in den Operationssaal zu fliegen. Das Einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt wusste: Ein Zehntel der Patient:innen überlebt diesen Eingriff nicht – und für diesen Fall wollte ich mit schönen Erinnerungen im Kopf gehen.

Mehr wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Das war aber essenziell, denn hätte ich mich umfangreicher informiert, hätte ich den Eingriff sicherlich nicht durchführen lassen. Ich wusste: Der Eingriff ist meine einzige Chance zu leben, also fieberte ich fast schon energisch darauf hin. Unwissend, dass mir mein größter Kampf noch bevorstehen sollte.

Da waren wir nun: 17. April 2024. Vollgetankt mit Sonne und gutem Essen wurde ich in die Vorbereitungsschleuse geschoben. Es ging los. Ich war tatsächlich überhaupt nicht aufgeregt. Wie schon gesagt: Ich wusste, wenn ich leben möchte, muss ich da durch.

Die Operation dauerte acht Stunden. Der Chirurg musste die minimalinvasive Operation abbrechen und diese radikal durchführen. Er meinte, das sei absolut notwendig gewesen, weil der Tumor so diffus gewachsen war, dass er anders nicht sicher gehen konnte, diesen vollständig zu entfernen. Dieser Eingriff gilt als einer der komplexesten der Viszeralchirurgie (Chirurgie der inneren Organe). In meinem Fall wurden circa achtzig Prozent des Magens und der Speiseröhre entfernt und aus den restlichen zwanzig Prozent ein Magenschlauch geformt, der an den Speiseröhrenstumpf wieder angenäht wurde. Diverse Verschlüsse, meine Gallenblase und 32 Lymphknoten mussten ebenfalls dran glauben.

No items found.

Dementsprechend fühlte ich mich, als ich nach knapp zehn Stunden wieder das Licht der Welt erblickte: wie vom Auto überfahren, bewegungsunfähig. Vier Drainagen in mir, Morphiumpumpe, Sauerstoffgerät, Blasenkatheter.

Aber meine Mama saß da, und das zauberte mir gleich ein Lächeln ins Gesicht. Ab diesem Tag begann ein sechs­wöchiges Delirium, das ich bis heute nicht verarbeitet habe.

Ich werde in Worten niemals beschreiben können, durch welche Hölle ich gegangen bin. Monatelanges Morphium intravenös, zwei Wochen nur Rückenlage und bewegungsunfähig an die Wand starren. Schmerzen, die ich einfach nicht in Worte fassen kann. Künstliche Beatmung und Ernährung über Wochen. Ich musste das Laufen neu lernen, weil mein Körper so schnell abgebaut hatte. Auf ein positives Erlebnis – mein erster kleiner Ausflug nach draußen, selbstverständlich mit Rollstuhl und Beatmungsgerät – folgte ein riesiger Rückschlag.

Wir kamen wieder, und diese zwanzig Minuten Sonne hatten mir eigentlich gutgetan, aber mir wurde schlecht. Schwindel, Übelkeit, Schweißausbrüche. Wieder wusste ich nicht, was da gerade passiert. Zu mir kam ich mal wieder im Operationssaal. Ich hörte die Ärztin sagen: ›Sie haben Wasser in der Lunge, wir müssen sofort operieren.‹ Ich hatte keine Wahl, also nickte ich müde. Ich war zu diesem Zeitpunkt körperlich und psychisch so am Ende, dass ich das auch gar nicht mehr hinterfragen konnte.

Ich kam im Aufwachraum wieder zu mir. Alles war erfolgreich verlaufen, aber ab diesem Tag ging mein Kampf erst so richtig los. Eine unerklärliche Übelkeit kam in mir auf, die mich die nächsten Wochen begleiten sollte. Ich rammte mir wie besessen den Finger in den Hals, weil mir das als einziger Ausweg erschien. Mir wurde gesagt, dass ich daran sterben werde, wenn ich das weitermache. Die Nähte waren ja logischerweise ganz frisch, und wenn dann so eine mechanische Belastung draufkommt, kann es natürlich sein, dass diese nicht halten. Aber ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen. Kein Medikament half. Immer wieder die ratlosen Blicke sämtlicher Stations- und Oberärzte bei der Visite. Ich war so verzweifelt. Heute weiß ich natürlich, dass solche Nebenwirkungen vorkommen können und gar nicht so selten sind, aber in dem Moment habe ich die Welt nicht verstanden.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon knapp zwanzig Kilogramm gelassen. Nach jedem Versuch der oralen Nahrungsaufnahme hatte ich Schmerzen, die ich einfach nicht beschreiben kann. Ein anderer Betroffener hat es einmal treffend zusammengefasst: ›Es fühlt sich an, als würde das Hackfleisch, das ich versucht habe zu essen, wieder zur Kuh werden und diese mit ihren Hufen von innen gegen meinen Magenschlauch treten.‹ Ein Gefühl, an das ich mich gewöhnen sollte, denn es gehört ab diesem Tag zu meinem ständigen Begleiter.

Die Tage im Krankenhaus plätscherten vor sich hin. Ich habe nicht realisiert: Die Operation sollte doch mein Leben retten und es nicht zerstören. Ich nahm immer weiter ab, hatte immer weniger Kraft. Die Übelkeit blieb, und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als bei der morgendlichen Visite auszusprechen, dass ich mir das Leben nehmen werde, wenn sich nicht langsam etwas ändert. Ich hatte keine ernsthaften Suizidgedanken, aber ich war verzweifelt und wollte, dass es aufhört.

Dann betrat ein Arzt das Zimmer. Ich hatte ihn noch nie gesehen, was daran lag, dass er nicht mehr auf Station tätig war. Dieser Arzt hatte einen Einfall: ein Medikament, das auch bei Chemotherapie gegen Übelkeit eingesetzt wird. Vielleicht war es ein Placebo, vielleicht hat es wirklich geholfen, aber in den nächsten Tagen wurde meine Übelkeit wesentlich besser.

Dann kam der Tag der Entlassung. Mir wurde eröffnet, dass man ab einem gewissen Punkt einfach nichts mehr für mich tun könne. Die Liegezeit, in der man Geld für meinen Aufenthalt bekommt, war einfach abgelaufen. Und so entließ man mich in die Häuslichkeit: 43 Kilogramm, opiatabhängig, schwer traumatisiert und nicht einmal fähig, drei Schritte zu gehen, ohne eine Pause machen zu müssen.

Trotz allem freute ich mich auf zu Hause, also wirklich zu Hause. Berlin war leider Geschichte, ich war ein Pflegefall. Nicht fähig, alleine zu duschen, einzukaufen, den Haushalt zu führen, und vom Essen wollen wir gar nicht erst anfangen. Es begannen Wochen der Verzweiflung. Drei Löffel Brühe – drei Stunden schwerste Magenkrämpfe und Koliken. Dann eine Banane – dasselbe Spiel in Grün. Wieder zwei Stunden bewegungsunfähig, Krämpfe, Durchfall, ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Meine Mama sagte mir später, dass sie immer noch Albträume von meinen Schreien aus dem Nebenzimmer hat oder ihr die Bilder nicht aus dem Kopf gehen, wie ich zusammengekrampft auf dem Küchenfußboden liege und mit leerem Blick darauf warte, dass meine Wärmflasche fertig ist. Ich verstand die Welt nicht mehr, aber ich wusste: Ich will leben. Also begann mein Kampf – mein Kampf gegen mich und meinen Körper.

Meine Mutter musste mich quasi zwingen, wieder ins Krankenhaus zu gehen. Ich hatte kein Vertrauen mehr in die Ärzte und tatsächlich eine Abneigung gegen das System, das mich so im Stich gelassen hat. Allein der Gedanke, wieder in einem Mehrbettzimmer den Gerüchen ausgesetzt zu sein, die ein Krankenhaus nun einmal hat, löste in mir große Angst aus. Außerdem dachte ich mir: Die kriegen doch sowieso nichts hin. Es wurde in der Charité wirklich alles versucht – zig CTs und Gastroskopien – und kein einziger Hebel, an dem man hätte drehen können, wurde entdeckt. Also warum sollte ich mir das noch einmal antun?

Ich tat es meiner Mama zuliebe. Sie hatte so eine Angst, mich zu verlieren. Denn zu diesem Zeitpunkt war ich dem Tod näher als dem Leben. Ich vegetierte jeden einzelnen Tag, während sich die Welt um mich herum weiterdrehte. Alle hatten Spaß, der Sommer startete, und ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. Gefangen in meinem Kreislauf zwischen dem Versuch zu essen, den Schmerzen danach und dem Durchfall nach den Schmerzen. Also wieder Krankenhaus – und das erste Mal seit Langem sollte das Glück auf meiner Seite sein.

Die Oberärztin, die damals die Magenspiegelung durchgeführt hatte, konnte sich noch genau erinnern und organisierte mir ein Zimmer auf der Entbindungsstation. Die Gänge erinnerten eher an ein mittelklassiges Drei-Sterne-Hotel als an ein Krankenhaus – genau das, was ich brauchte, und ich bin ihnen immer noch so dankbar dafür.

Also wieder Diagnostik – und siehe da, Volltreffer: Stenose des Magenpförtners, also eine Verengung des Übergangs vom Magen zum Dünndarm. Eine absolute Routinekomplikation, die der Charité einfach nicht aufgefallen ist. Mein Bild dieser Einrichtung war ohnehin schon am Bröckeln, aber das hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Wie konnten die das übersehen? Nun gut, Fokus auf das Jetzt, dachte ich mir. Fokus auf Leben – kann ja nur besser werden.

Also stand wieder ein Eingriff bevor, keine große Sache. Das Verfahren nennt sich Ballondilatation. Man führt einen Ballon in die Engstelle ein und füllt diesen kontrolliert mit Luft, um die verengte Stelle wieder auszudehnen. Die Komplikationsrate ist relativ gering, aber natürlich wie bei jedem Eingriff vorhanden. Da die Risiko-Nutzen-Rechnung offensichtlich auf meiner Seite war, wurde dieser Eingriff sofort am nächsten Morgen durchgeführt.

Ich kam nach der Schlummerspritze zu mir, es fühlte sich nicht gut an. Total wund, noch mehr Spannung auf dem Schlauch als sonst schon. Nach ein paar Minuten kam auch schon die Ärztin rein – einen Joghurt und eine Flasche Fresubin (Trink- oder Sondennahrung) unter dem Arm. Ich war motiviert und fing gleich an zu essen. Meine Euphorie wurde aber schnell gebremst, weil ich merkte, dass sich nichts verändert hatte. Ich drehte mich wieder von links nach rechts vor Schmerzen und sah, wie die Ärztin Tränen in den Augen hatte. ›Herr Heinrich, ich kann Ihnen helfen, wenn Sie möchten. Ich kann die Stelle unterspritzen, damit Sie wenigstens keine Schmerzen mehr haben.‹ Aber ich wollte nichts mehr hören und antwortete nur, dass das ohnehin schon Alltag für mich sei und ich mich an diesen immer wiederkehrenden Schmerz gewöhnt hätte. Außerdem hatte ich immer noch große Angst vor den bestimmt zwanzig Zentimeter langen Spritzen, die man mir in der Charité zuhauf in den Rippenbogen gerammt hatte, um mir irgendwie Erleichterung zu verschaffen.

Ich wollte wieder einfach nur weg, abhauen. Mein Vertrauen in dieses System war nun komplett weg. Warum hilft denn nichts, warum muss ich immer wieder diese Schmerzen ertragen? Ich wollte mich selbst entlassen, habe mich aber besonnen, doch noch eine Nacht zu bleiben, um eventuelle Komplikationen auszuschließen.

Und nun saß ich wieder auf dem Klinikgelände, schaute mir die Snaps meiner Jungs in der Gruppe an, die gerade auf einem Festival waren. Ich war verzweifelt, wollte nicht mehr leben und habe vor allem einmal mehr die Welt nicht verstanden. Aber irgendwie hat es dann Klick gemacht, und ich habe mir geschworen, dass ich, solange meine Beine mich tragen, niemals, aber wirklich niemals aufgeben werde – und dass ich alles dafür tun werde, nächsten Sommer auch wieder auf einem Festival zu sein.

Und was soll ich sagen: Ein paar Tage später ging es tatsächlich bergauf. Nicht, dass ich auf einmal wieder einen Dönerteller hätte essen können, aber irgendetwas war anders. Als wäre die Kuh, die mit ihren Hufen austritt, auf einmal wohlgesonnen mir gegenüber. Das erste Mal nach über zwei Monaten konnte ich ein paar Löffel Reisbrei essen und hatte nur ein absolut unangenehmes Völlegefühl. Aber das war im Vergleich zu dem zuvor Erlebten schon fast ein Segen. Ich hatte neuen Lebensmut geschnuppert und war bereit, zu alter Stärke zu finden.

Ab diesem Punkt begann ein monatelanger Kampf. Es war zwar besser, aber das Essen war in den meisten Fällen immer noch eher mein Feind als mein Freund. Ich tat mich schwer damit, meine neue Situation zu akzeptieren. Ich führte ein Ernährungstagebuch, aber dabei verzweifelte ich nahezu täglich. Wie soll ich denn, verdammt noch mal, diese acht bis zehn Mahlzeiten reinbekommen? Es war so unberechenbar: Mal gingen 30 Gramm Reispudding, mal lösten sie schlimmste Krämpfe aus. Es war und ist so unfassbar herausfordernd, wann man was wie essen kann. Ich hatte das Gefühl, mein Leben dreht sich nur noch um die Nahrungsaufnahme. Ich hatte nicht nur das Gefühl – es war so. Aufstehen, Frühstück, hinlegen, entweder Krämpfe oder sofort wieder einschlafen. Aufwachen, Durchfall. Wieder essen, dasselbe von vorn. Ich habe versucht, das Beste daraus zu machen, trotzdem rauszugehen und den Sommer zu genießen. Mal bin ich auf irgendwelchen Bänken oder in Büschen eingeschlafen. Mein fast täglicher Gang zum Supermarkt dauerte mindestens eine Stunde, um insgesamt vielleicht 800 Meter Luftlinie zu bewältigen. Ich hatte einfach keine Kraft. Aber ich war dankbar – und das Gewicht auf der Waage stieg wieder.

Ab dem Zeitpunkt, als der Zeiger das erste Mal von 43 auf 44 Kilogramm sprang, war ich unfassbar besessen davon, zuzunehmen. Ich ging keinen Meter raus ohne einen vorbereiteten Snack, plante meinen ganzen Tag nur um meine Mahlzeiten, stellte mir nachts Wecker, nur um zu essen. Ich schleppte mich ins Fitnessstudio. Die Blicke waren schwer zu ertragen, und auch hier hatte ich viele unfreiwillige Pausen auf der Toilette. Aber ich sah schnell wieder Erfolge, und das motivierte mich ungemein. Trotzdem rutschte ich parallel in eine Depression. Ich verstand einfach nicht, wie ich jemals wieder ein normales Leben führen sollte: arbeiten, Haushalt, Partys – und trotzdem das Gewicht halten. Wie soll das gehen?

Die Frage stelle ich mir auch heute, anderthalb Jahre nach dem Eingriff, immer noch. Man gewöhnt sich daran, man lernt, damit umzugehen. Man lernt, die Mahlzeiten den Gegebenheiten anzupassen. Was kann ich wann wie essen, um adäquat zu funktionieren – oder wann ist es eben auch okay, nicht adäquat zu funktionieren? Das war ein harter und steiniger Weg, und auch heute übernehme ich mich regelmäßig, weil es so gut schmeckt oder weil ich der Meinung bin, ich könnte doch ein Gläschen Wein zu meiner Vorspeise trinken. Oder weil ich auch heute noch nicht so recht akzeptieren kann, dass ich anatomisch gesehen einfach nicht breit sein kann und mich nahezu jeden Tag bewusst überesse, um irgendwie zuzunehmen.

Die Zeit heilt viele Wunden, aber nicht alle. Das schreibe ich nahezu jedem Betroffenen, wenn er mir über Social Media seine Sorgen und Gedanken schildert. Das ist einfach ein riesengroßer Eingriff in unsere Anatomie, und dass das überhaupt möglich ist, ist beeindruckend. Da braucht der Körper nun mal viel Zeit, um sich an die Gegebenheiten anzupassen – und zu hundert Prozent wird er das nie tun. Das alte Leben wird nicht wiederkommen, darauf habe ich so lange gewartet. Aber dafür eröffnet sich dir ein neues, und dieses kann auch wunderschön sein. Schön, aber anders.

Nun stehe ich hier – irgendwo zwischen großer Dankbarkeit und immer noch der Frage: Warum ich? Ich arbeite wieder, merke aber, dass ich das auf Dauer nicht stemmen kann. Ich bin krebsfrei, aber mit dem Krebs ist auch ein Teil von mir gestorben. Aber lieber ist dieser Teil von mir gegangen als mein ganzer Körper. Denn ich sage: Dieser Eingriff fragt nicht nach deiner Lebensqualität, er ist unerlässlich dafür, dass du leben darfst. Und genau so sollte man ihn betrachten, obwohl mir das selbst nicht immer leichtfällt. Ganz nebenbei ist die Lebensqualität auch recht gut – und obwohl Dinge wie Völlegefühl, Durchfall oder Dysphagie (Schluckstörungen) auch heute noch meinen Alltag bestimmen, bin ich so verdammt dankbar, hier zu sein.

Ich danke euch von ganzem Herzen für die Einladung und dafür, dass ich meine Geschichte bei euch erzählen durfte. Das bedeutet mir unfassbar viel.

Ein riesiges Dankeschön auch an jeden, der mich auf diesem Weg begleitet hat. Es ist ein schönes Gefühl, nicht alleine zu sein.«

Ein junger Mann mit Sonnenbrille und schwarzem Tanktop lächelt in die Kamera.
Name
Ian
Website
Interviewt von
Erzählt am
5.12.2025
Verstorben am

*Adenokarzinom – Bösartiger Tumor, der aus Drüsengewebe entsteht, etwa im Magen oder an der Speiseröhre.

Schau mal, diese Geschichten könnten dir auch gefallen.

Patient:in
Speiseröhrenkrebs
Adenokarzinom
Ian
,
22
Patient:in
Brustkrebs
Tanja
,
38
Patient:in
Blutkrebs
Akute lymphatische Leukämie
Laura
,
24
Patient:in
Eierstockkrebs
Brustkrebs
Jana
,
47
Patient:in
Synovialsarkom
Daniela
,
46
Patient:in
Gebärmutterkörperkrebs
Eierstockkrebs
Jasmin
,
48
Patient:in
Astrozytom
Hirntumor
Bianca
,
33
Patient:in
Hodgkin-Lymphom
Jessica
,
37
Patient:in
Magenkrebs
Frank
,
58
Patient:in
Hodgkin-Lymphom
Sofia
,
26
Patient:in
Ewing-Sarkom
Dave
,
20
Patient:in
Gebärmutterkörperkrebs
Anja
,
52
Patient:in
Brustkrebs
Argiro
,
54
Patient:in
Hirntumor
Astrozytom
Ajla
,
19
Patient:in
Brustkrebs
Judith
,
38
Patient:in
Glioblastom
Sanne
,
25
Illustration eines rosa Sparschweinchens

Hilf uns beim Helfen! Mit deiner Spende.

Damit wir auch zukünftig weiter Geschichten von Patient:innen und Angehörigen erzählen können, sind wir auch deine Spende angewiesen.

Hilf uns beim Helfen! Mit deiner Spende.

Logo PayPal.
Mit PayPal spenden
Logo Betterplace.
Mit Betterplace spenden

Per Überweisung

IBAN DE11 8306 5408 0004 2983 06
BIC GENODEF1SLR
Bank Deutsche Skatbank
IBAN kopieren