
Im November 2024 begann alles mit leichtem Schwindel. Kein Drama. Ich war mitten in meiner Masterarbeit im Bauingenieurwesen – dachte an Stress, Bildschirmzeit, zu wenig Kaffee. Ich bin niemand, der sofort an das Schlimmste denkt. Ich baue. Ich rechne. Ich mache weiter. Doch am 6. Februar 2025 kam die Diagnose in Freiburg: Hirntumor. Klarer Schnitt. Kein Spielraum mehr für Wegdiskutieren oder Ignorieren.
Aber mein Ehrgeiz war größer als Fred, wie ich den Tumor später taufte. Mein Kolloquium? Das habe ich vorgezogen und am 18. Februar gehalten, bevor irgendjemand an meinem Kopf herumschneidet. Ich bin Sturkopf und Bauingenieurin – kein Tumor hält mich von meinem Abschluss ab.
Die OP sollte am 21. Februar stattfinden – wurde aber auf den 24. verschoben. Fred wollte scheinbar nochmal Luft holen. Am 28. Februar kam dann die genaue Diagnose: Astrozytom Grad 4 – eine hochgradig aggressive Unterform des Glioblastoms. Nicht nett. Aber ganz ehrlich: Ich auch nicht, wenn man mir querkommt.
Ich wollte eigentlich am 1. März allein nach Australien und Neuseeland reisen. Sechs Wochen, ganz für mich. Stattdessen bin ich an dem Tag aus der Klinik nach Siegen zurückgefahren – mit frischer Narbe, leerem Rucksack und vielen losen Enden.
Australien bekam derweil Zyklon Alfred ab. Ich nenne es göttliche Ironie. Oder Freds beleidigter Racheakt, weil er nicht mitdurfte.
Auf der Intensivstation – noch voll unter Medikamenten – habe ich ›BIR‹ von Mehnersmoos gesungen. Voller Inbrunst. Mein Freund hat mir später ein Shirt von der Band geschenkt: ein Gehirn, das mit einem Hammer bearbeitet wird. Mein Humor hat applaudiert. Das Shirt wurde mein treuer Begleiter während der 30 Bestrahlungseinheiten: 23 in Siegen, 7 in Marburg am MIT.
Aber die eigentliche Arbeit passierte in meinem Kopf. Jeden einzelnen Tag habe ich mir vorgestellt, wie Fred nun in meinem Gehirn freiliegt. Winzig, gekrümmt, wie ein mieser Baupfusch in der letzten Ecke des Plans. Ich sprach mit ihm. Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht mag. Dass er gehen muss.
Und dann lief mein innerer Baufilm: Mein Stammhirn, mein Innenohr, meine Sehbahn, meine Haarwurzeln – alles sauber abgeschirmt durch Schutzwände, Strahlenschilde, präzise Statik. Nur Fred war ungeschützt. Strahlung traf ihn gezielt, wie Abrissbirnen auf ein einsturzreifes Gebäude. Mit jeder Einheit zerbröckelte er mehr. Wurde zu Staub. Zu Partikeln. Zu Nichts. Fred zahlte keine Miete und wurde restlos rausgeschmissen!
Heute habe ich Einschränkungen. Ich brauche einen Rollator im Alltag. Und ja – ich gehe mit dem Ding auf Feiern und Festivals. Weil ich mein Leben feiere. Weil ich da bin. Weil es nichts gibt, was mich davon abhält, mitten im Geschehen zu stehen – auf eigenen Beinen oder eben mit Rädern.
Durch die Bestrahlung sind mir teilweise die Haare ausgefallen. Also habe ich mir eine Perücke geholt. Und ehrlich: Ich liebe sie. Mit ihr bin ich mal Khaleesi, mal Elsa, die Eiskönigin – so sagt es jedenfalls eine gute Freundin. Und sie hat recht.
Ob mit oder ohne Perücke – ich fühle mich stark. Weil ich mich nicht über das definiere, was fehlt, sondern über das, was bleibt. Und das bin ich.
Ungebremst. Unverkennbar. Und vor allem: unaufhaltbar.
