
»Ich heiße Cristina und bin 35 Jahre alt. Und zum ersten Mal in meinem Leben geht es wirklich um mich. Wie das kam, das erzähle ich euch heute.
Es war ein ganz gewöhnlicher Abend, als sich mein Leben schlagartig veränderte. Ich kam spät von der Arbeit nach Hause, erschöpft und voller Müdigkeit, bereit, einfach nur zu schlafen. Und doch sollte es an diesem Abend anders kommen. Wenige Minuten, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, erlitt ich einen epileptischen Anfall. Mein Partner reagierte sofort, rief den Notruf – und noch in derselben Nacht kam ich ins Krankenhaus. Die Diagnose war zunächst unklar. Im MRT entdeckten die Ärzte allerdings einen dunklen Fleck im Kopf. Ich blieb sechs Tage stationär im Krankenhaus, bekam Cortison, weitere MRTs und eine Entnahme von Nervenwasser wurden gemacht – eine Tortur. Ganz plötzlich war alles, was mir Sicherheit gegeben hatte, weg. Die Worte der Ärzte hallten in mir nach: ›Da ist etwas im Kopf.‹ Näheres konnte man mir nicht erläutern, deswegen entschied ich, das Krankenhaus auf eigenen Wunsch zu verlassen und die Kopfklinik in Heidelberg aufzusuchen.
Die dortige Diagnose kam innerhalb kürzester Zeit: Hirntumor. Diffuses Astrozytom Grad 2 (Die genaue Tumorbestimmung erfolgte erst vier Wochen später). Ein Schock – nicht nur für meinen Körper, sondern für mein ganzes Leben. Wenige Tage später folgte die Operation. Der Tumor lag frontal rechts, nahe am Motorik- und Sprachzentrum – eine Operation barg unter anderem das Risiko einer halbseitigen Lähmung. Sechs Stunden unter Vollnarkose, aber als ich aufwachte, konnte ich meine Arme und Beine bewegen. Dieses Gefühl der Dankbarkeit werde ich niemals wieder vergessen.
Die Tage danach waren hart. Schmerzen, eine Narbe, die über meinen ganzen Kopf verlief, und die Unfähigkeit, einfachste Dinge zu tun: laufen, alleine auf die Toilette zu gehen oder sogar eine Schnabeltasse zu halten. Ich war auf einmal ohne Hilfe nicht mehr lebensfähig. Anfangs versuchte ich noch zu scherzen – brach aber kurze Zeit später in Tränen aus. Der Schock warf mich in ein emotionales Chaos. Wieder zu Hause bestand mein Alltag aus Schmerzmitteln und Schlaf.
Die genaue Diagnose und Bestimmung des Tumors erhielt ich dazu noch vier Wochen nach der Operation: Astrozytom Grad 2 mit IDH-Mutation (ein langsam wachsender Hirntumor, der von sogenannten ›Stützzellen‹ des Nervensystems ausgeht). ›Ihr Glas ist halbvoll – es ist ein langsam wachsender Tumor, aber früher oder später werden wir wieder an den Kopf müssen‹, sagte der Arzt zu mir, und ich brach erneut zusammen und verstand kaum noch etwas. Ich bin ab jetzt chronische Krebspatientin? Was hat das alles zu bedeuten? Wie krank bin ich wirklich?
Nach dem erneuten Eingriff nahm ich täglich Antiepileptika, um mich vor möglichen Anfällen zu schützen. Diese belasteten mich allerdings psychisch enorm. Ich fühlte mich fremd, betäubt und fremdgesteuert. Zwar schützten sie vor Anfällen, ließen mich aber auch nicht viel Leben spüren. Die Zeit war geprägt von Unsicherheit, Schmerz, Angst- und Panikattacke. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte. Zwei Wochen später entschied ich mich für eine Reha mit dem Schwerpunkt Psychoonkologie. Dort begann ich, die Diagnose allmählich zu verstehen und Wege zu finden, damit zu leben. Ich erkannte dort auch, dass meine zwar schwer klingende Diagnose im Vergleich zu anderen Krankheiten harmloser war. Ich verstand, was der Arzt meinte, als er sagte, ich hätte noch die guten Karten erwischt.
Nach nur zwei Wochen Reha kehrte ich nach Hause zurück – und fasste einen wichtigen Entschluss: Ich wollte eine neue Version von mir werden. Eine, die auf sich achtet, ihr eigenes Leben gestaltet und nicht nur für andere lebt. Denn ich wusste, die alte Version hatte mir kein gesundes Leben beschert. Bis dahin hatte ich immer funktioniert. War immer für andere da, egal ob Job oder Privatleben. Ich war gut darin, stark zu sein – oder es zumindest so aussehen zu lassen. Mit meiner Diagnose war dann nichts mehr wie vorher. Ich konnte nicht mehr arbeiten, konnte plötzlich nicht mehr eigenständig leben.
Zum ersten Mal habe ich wirklich gefragt: Wer bin ich, wenn alles wegbricht? Was will ICH?
Ich habe mittlerweile verstanden, dass Heilung mehr ist als Medizin. Dass sie Zeit, Ehrlichkeit und Mut braucht. Ich habe mich zum ersten Mal nicht nur ›therapieren‹ lassen, sondern mich selbst gespürt. Ich habe reflektiert, geweint, losgelassen – und endlich verstanden.
Heute gehe ich regelmäßig zur Kontrolle. Erst alle drei, später alle sechs Monate. Zwei Jahre nach der Operation ist bislang nichts nachgewachsen. Doch immer wieder werde ich daran erinnert, dass der Tumor wachsen wird. Ich lebe mit dem Gedanken: ›Solange ich achtsam und bewusst lebe, wächst nichts. Und wenn irgendwann doch etwas kommt – dann ist es eben so. Bis dahin will ich aber machen, was ich will.‹
Mir wurden mögliche Therapien im Falle eines Fortschreitens angeboten: Chemo, Bestrahlung, oder eine Studie mit dem Medikament Vorasidenib, das das Tumorwachstum verlangsamt. Ich entschied mich dagegen – weil ich glaube, dass man nichts verlangsamen muss, was gerade nicht da ist. Manchmal frage ich mich, ob die Entscheidung richtig ist. Ich kann aber nur noch nach meinem Gefühl gehen - das ist alles, was für mich und meinen Körper zählt. Außerdem wusste man nicht, wie die Nebenwirkungen sind, auch in Bezug auf mögliche Schwangerschaften. Bis dahin dachte ich eigentlich, dass ich irgendwann mal Mutter würde. Nun habe ich diesen Gedanken verworfen.
Heute lebe ich mit Einschränkungen: weniger Energie und Aufmerksamkeit, Momente der Fatigue, Momente der Angst und depressiven Episoden – aber auch mit tiefer Dankbarkeit. Ich habe gelernt, mein Leben bewusst zu gestalten, die kleinen Dinge zu feiern und jeden Tag zu schätzen. Meine Kraft liegt nicht darin, was ich verloren habe, sondern darin, wie ich mein Leben neu gestalte – mutig, achtsam und voller Hoffnung. Auch wenn diese Lebenseinstellung oft ins Wanken geriet – will ich mich immer wieder neu fangen und nicht aufgeben. Ich bin dankbar für meinen starken Partner, der mir zur Seite steht.
Was ich vermisse, ist die ärztliche Unterstützung – ich hatte den Eindruck, im Krankenhaus eine Nummer gewesen zu sein. Operiert und weg. Ich hatte keine psychoonkologische Begleitung ausserhalb der eigen initiieren Reha, immer wieder wechselnde Ärzte, die über meinen Befund sprachen – keine feste Anlaufstelle. Vor allem keine Empathie. Ich fühlte mich sehr verloren und musste mir gefühlt alles selbst aneignen. Daher bin ich um jede Unterstützung froh, die Informationen zusammenstellt.
Direkt nach der Operation habe ich ein Buch geschrieben. Ein Akt der Befreiung – Gedanken, die plötzlich ungeniert herauswollten. Ein zweites nach der Reha. Nicht, weil ich Autorin werden wollte, sondern weil ich Worte brauchte, um zu verarbeiten.
Meine Geschichte – ungefiltert, ehrlich, nah. Kein ›alles gut‹. Ich habe gesprochen – über das, was sonst leise bleibt. Heute weiß ich: Ich bin nicht meine Diagnose. Ich bin nicht ›krank‹, weil da etwas in meinem Kopf ist. Ich will leben – bewusst, achtsam, echt. Ich will gesund bleiben. So wie ich es verstehe: verbunden mit mir. Und ja, ich will anderen Mut machen. Egal, was kommt. Weil das Leben nicht wartet. Weil ich endlich meins leben will. Weil ich mehr bin als mein Schicksal.«
