Wenn ich an mein Ich vor der Brustkrebsdiagnose denke, sehe ich da diese Frau, die gerne auf der Couch lümmelt. Und gleichzeitig die Frau, die es liebt in Bewegung zu sein. Die Frau, der Bewegung leichtfällt. Während meiner Akuttherapie war ich immer wieder an die Couch gefesselt. Ich sagte mir, wenn ich das alles überstanden habe, dann lege ich wieder los. Im Juli 2024 – ich hatte gerade meine berufliche Wiedereingliederung geschafft – hat aber so richtig körperlich fit war ich noch nicht. Ein Ziel musste her.
Mich in 9 Monaten auf ein 10-Kilometer-Rennen vorbereiten? Das schaffe ich. Und so meldete ich mich zum ersten Mal in meinen Leben für einen Lauf an, der am 11.04.2025 stattfinden sollte. Was ich nicht ahnte, dass ich sechs Wochen nach der Anmeldung meine zweite Krebsdiagnose erhalten würde: Triple-negativer-Brustkrebs mit Metastasen in Wirbelsäule und Leber. Laufen? Keine Zeit, um überhaupt daran zu denken. Ich verlor immer mehr an Kraft und Gewicht. Wenn es die Schmerzen es erlaubten, schaffte ich einen kleinen Spaziergang.
Bevor ich mit der Chemotherapie beginnen konnte, wurde ich zehn Mal an Hals-, Brustwirbelsäule, Kreuzbein und Beckenknochen bestrahlt. Das waren die bis dato härtesten Wochen meines Lebens. Neben unglaublichen Schmerzen, Appetitlosigkeit und Übelkeit, weiteren Gewichtsverlust, bewegte ich mich nur noch, wenn ich mich vor Schmerzen krümmte. Nach der Bestrahlung begann im Oktober meine Chemotherapie. Aufgrund schlechter Blutwerte bekam ich zunächst Bluttransfusionen. Außerdem wurde ich stationär aufgenommen, um die erste Gabe der Chemotherapie zu überwachen. Ich reagierte heftig auf die Infusion. Die Leukozyten rauschten weiter ab, sodass ich isoliert werden musste. Inzwischen hatte mich die behandelnde Ärztin mit Hydromorphon eingestellt, sodass ich kaum noch Schmerzen hatte. Ich begann täglich kleine Runden auf der Dachterrasse des Krankenhauses zu gehen und praktizierte sanftes Yoga in meinem Krankenzimmer.
Nach zwei Wochen hatten sich meine Blutwerte so weit erholt, dass ich meine Chemotherapie in reduzierter Dosis fortsetzen konnte. Diesmal vertrug ich sie gut. Ich war sehr müde, aber erneutes Fieber und Knochenschmerzen blieben aus. Endlich konnte ich nach Hause und die Chemo ambulant fortführen. Ich war immer noch schwach, aber nach und nach kam wieder Kraft in meinen Körper. Langsam nahm ich auch an Gewicht zu. Nicht zuletzt durch das Olivenöl, dass mein Mann heimlich unter mein Essen mischte, wie er im Nachhinein zugab. Langsam rückte das erste Staging näher. Da es mir stetig besser ging und ich immer mehr Yoga und Spaziergänge in meinen Alltag integrieren konnte, tauchte auch ab und zu der Gedanke an das Rennen in meinem Kopf auf. Kurz vor Weihnachten hätte man mir kein größeres Geschenk machen können: Die Chemo schlug an. Die Metastasen in der Leber waren rückläufig und die Metastasierung in den Knochen stabil. Die Ärzte gaben ihre Zustimmung. Und so kaufte ich noch vor dem Jahreswechsel hochmotiviert neue Laufschuhe und startete mit dem Joggen. Naja, ob man es – von außen betrachtet –,Joggen nennen konnte, sei dahingestellt. Aber ich war glücklich.
Noch vor vier Monaten konnte ich mich kaum bewegen und war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder Laufschuhe tragen würde. Ob ich überhaupt so weit in die Zukunft planen sollte. Ich will nicht lügen, die ersten Schritte waren hart. Bei jedem Schritt spürte ich in meinen Körper hinein. Halten die Knochen? Mache ich zu viel? Die ersten Schritte sind bis heute kein Vergnügen. Doch bin ich einmal am Laufen, in meinem Tempo – einem Intervall von fünf Minuten laufen und einer Minute gehen – komme ich (meistens) in einen Flow. So schaffte ich Mitte Januar meine ersten fünf Kilometer. Das Hydromorphon hatte ich inzwischen komplett abgesetzt. Doch irgendwann spürte ich, das etwas nicht stimmte. Ich ermüdetete viel schneller, war innerlich unruhig und gestresst. Plötzlich bemerkte ich kleine Pickel an meinem Kopf. Sechs Wochen vor dem Rennen dann die Diagnose: Gürtelrose. Das kann nicht wahr sein. Ich sollte jegliche Art von Sport und Stress vermeiden. Stress vermeiden, obwohl mein zweites Staging in drei Wochen anstand. Ein toller Rat dachte ich. Und das Rennen kann ich vergessen. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft zehn Kilometer zu laufen.
Die Gürtelrose heilte glücklicherweise gut und schnell ab. Drei Tage vor meinem Staging tastete ich einen stark vergrößerten Lymphknoten an meinem Hals. Das Staging bestätigte mein Körpergefühl. Gerade als ich von den MRT- und CT-Aufnahmen nach Hause kam, klingelte mein Handy. Ich wusste sofort, dass das kein gutes Zeichen war. Mehrere Lymphknoten im Körper waren stark vergrößert und lagen bedrohlich nah an wichtigen Hohlvenen. Da ich am Telefon von all den Informationen völlig überfordert war, bekam ich am nächsten Tag einen Gesprächstermin. Alle Aufnahmen wurden mir nochmal in Ruhe erläutert. Ich begann prophylaktisch Heparin zu spritzen und ich wurde von Sacituzumap auf Eribulin umgestellt. Auf meine Frage, ob ich wieder joggen gehen darf: Ja, wenn sie sich nicht überanstrengen. Noch so ein toller Rat. Vorsichtig tastete ich mich wieder an das Laufen heran.
Dann genau zehn Tage vor dem Rennen, war ich von mir selbst so genervt. Ich konnte nicht immer wieder dem Krebs die Oberhand überlassen. Es ist immer noch mein Körper. Der Krebs gehört halt jetzt dazu, ob ich will oder nicht. An diesem Morgen lief ich einfach los. Ohne nachzudenken, dafür mit Mut und auch ein bisschen Wut im Bauch. Viel wichtiger jedoch war, dass ich – mit Zuversicht im Herzen – spürte, dass nach all diesen Rückschlägen nun die Zeit für etwas Gutes gekommen war. An diesem Tag lief ich zum ersten Mal die zehn Kilometer. Ich weinte vor Glück. Zehn Tage später stand ich nun in meinem Startblock. Der Startschuss ertönte und ich lief los. In meinem Tempo, mit meinen Gehpausen zwischendurch. Die ersten Kilometer war ich noch sehr zittrig. Doch ich spürte, dass mein Körper sich gut anfühlte. Das ich stark bin. Und als mich dann noch meine Schwägerin, mein Mann und all die fremden Menschen an der Strecke anfeuerten, wurde ich noch mehr beflügelt. Nach gefühlt einer Ewigkeit war das Ziel in Sicht. Noch bevor ich die Ziellinie überquerte, liefen mir die Freudentränen über die Wangen. Trotz Anstrengung strahlte ich über beide Ohren.
Wer aber noch mehr strahlte war mein Mann. Als ich auf der Zielgerade mit ihm abklatsche, sah ich es in seinen Augen: der Stolz, die Freude, die Erleichterung. Manchmal vergisst man als Betroffene wie sehr diese Krankheit auch unsere Liebsten trifft. Wie sie mitleiden, alles mittragen, obwohl der Fokus immer auf uns gerichtet ist. Ich lief jeden Schritt auch für ihn. Als ich die Ziellinie überquerte, riss ich vor Freude die Arme in die Luft, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Für mich fühlte es sich genauso an. Als ich dann noch meine Medaille um den Hals gehängt bekam, platzte ich vor Stolz. Es war für mich auch im Ziel nicht zu fassen, dass ich das geschafft hatte. Nach alldem, was seit der Anmeldung passiert war. Es gab Zeiten, da hätte ich niemals geglaubt, dass ich diesen Moment erleben würde. Doch noch mehr habe ich an mich geglaubt. An all das, was in mir steckt. Und vor allem daran, dass in meinem Körper immer noch mehr gesund als krank ist.